Schon in ganz alten Zeiten, als die Harzbewohner noch den Naturgöttern huldigten und noch nichts aufgeschrieben wurde, sollen Fremde ins Selketal gekommen sein. Man nannte diese unheimlichen Fremden „Venediger“. Jedes Jahr wieder, sollen drei von ihnen gekommen sein. Sie trugen seltsame, aber edle Kleider und holten aus einer Höhle Sand, den sie in Säcke füllten und mit edlen Pferden abtransportierten. Kein Mensch hat sich darum gekümmert, denn man wusste nicht, wofür der Sand gut sein sollte. Und wenn mal einer die Fremden danach fragte, so sagten sie: „Zum leichteren Schmelzen des Eisens“. Über viele, viele Jahre ging das so.

Einmal kamen die Venediger wieder und die Höhle war mit riesigen Felsstücken verschlossen. Sie konnten nur noch zehn Schritt weit hinein gehen. Und von ihrem Sand fanden sie keine Spur mehr. Da erzählten sie den Menschen, dass sie immer reinen Goldsand aus der Höhle geholt hätten und damit sehr reich geworden waren. Und sie wollten wissen, was die Höhle verschüttet hatte, denn Menschenhände könnten das nicht gewesen sein. Aber die Menschen schenkten den Fremden keinen Glauben.

Trotzdem gab es immer wieder Neugierige, die nach der mysteriösen Höhle suchten, aber wohl keiner fand sie. Eines Tages war einem Hirten Namens Tidian, der im Dienste der Falkensteiner Grafen stand, eine Kuh entlaufen. Tidian kannte seine Herrn und wusste von dem Ungemach, das auf ihn zukommen würde, wenn  er die Kuh nicht wieder finden würde. Also machte er sich auf die Suche und da er seine Herde auf den Wiesen unterhalb des Ausberges hütete, begann er seine Suche an den Berghängen. Bald stieß er auf einen Höhleneingang, aus dem Wasser lief und dessen Boden mit Goldsand bedeckt war. Da ließ er die verlorene Kuh außer Acht, stopfte sich Taschen und Beutel voll und ging nach Hause. Er wollte mit dem Goldsand nach Halberstadt zu einem Goldschmied gehen. Also machte sich Tidian auf und war am nächsten Morgen in der Bischofsstadt. Der Goldschmied war sehr angetan von der Güte des Goldes und bezahlte reichlich. Einige Tage später war Tidian wieder an der Höhle, um Goldsand zu holen. Aber er fand nichts mehr. Da war ihm klar, dass Geister und andere böse Mächte ihre Hand im Spiel hatten und das Gold nicht jeden Tag zu finden war. Jeden Tag suchte er nun die Höhle auf, bis er eines Tages, in einer Neumondnacht wieder Goldsand fand.

Da beschloss Tidian das Gold wieder nach Halberstadt zum Goldschmied zu bringen und dann nicht weiter nach Reichtum zu streben. Er hatte jetzt genug Geld um seine Liebste, die ihm vorher versagt worden war, zu heiraten und eine Familie gut versorgen zu können.

In diesen Tagen ergab es sich aber, dass der Graf von Falkenstein nach Halberstadt ritt, um beim Goldschmied für seine Braut Hochzeitsschmuck zu erwerben. Der Graf sah den feinen Goldsand liegen und fragte nach dessen Herkunft. Da erzählte ihm der Goldschmied von dem Hirten und der Höhle im Selketal. Der Graf kehrte auf seine Burg zurück und ließ den Hirten rufen. Er befahl ihm, ihn zu der Höhle mit dem Goldsand zu führen. An der Höhle angekommen wusste der Graf nun den Weg und ließ den Hirten ergreifen und blenden. Denn er argwöhnte, dass der Hirte auch nochmals zu der Höhle kommen könnte um Gold zu holen oder auch noch einen anderen dorthin führen könnte. 

In der nächsten Neumondnacht ritt der Graf allein zur Höhle, denn er traute keinem. Aber da war nichts, außer Morast und Geröll. Und aus dem Dunkel der Höhle erklang eine unheimliche Stimme, die einen furchtbaren Fluch aussprach. Verstört kehrte der Graf auf seine Burg zurück, wo er schon erwartet wurde, denn seine Braut war gerade verstorben. Und auch der Graf verstarb nur wenige Tage nach diesem Ereignis.

Die Höhle, die gegenüber dem Kleinen Hausberg liegt, wurde fortan als verflucht angesehen und Tidianshöhle genannt und der Berg Tidiansberg. Und keiner hat sich jemals wieder in die Höhle getraut, bis heute nicht!


gezeichnet von Lisa Berg

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© Dobermannzwinger von der Tidianshöhle